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6. November 2023Das Paradies am Ende der Welt | Gospodăria Cobor: Absteigen und nie mehr weg wollen…
Es ist ein nettes Wortspiel: „Cobor“ heißt auf Rumänisch, ich steige ab oder aus – vom Pferd, vom Drahtesel, aus dem Auto. Aber wer verirrt sich schon nach Cobor in Siebenbürgen? Camelia und Silviu Petre zum Beispiel, vor sieben Jahren, und ohne zu wissen, wo sie eigentlich gelandet waren. Das verlassen wirkende Dorf, die verfallenden Häuser, die alte reformierte Kirche, zu der man sich erst durch mannshohes Gestrüpp vorkämpfen musste, faszinierte das Paar auf Anhieb. Vor allem aber, dass ihnen während der Stunde, in der sie auf staubigen Schotterwegen alles erkundeten, keine Menschenseele, kein Auto, begegneten. Himmlische Ruhe! Göttliche Abgeschiedenheit! Ein versunkenes Paradies! Damals gestanden sich die Ehepartner einen bisher unbekannten Herzenswunsch ein: Jeder der beiden hatte insgeheim davon geträumt, an so einem Ort zu leben!
Am 1. Juni dieses Jahres ist der Traum dann offiziell wahr geworden: In der „Gospodăria Cobor“, am Ende des gleichnamigen Dorfes, das zur Gemeinde Deutsch-Tekes/Ticușu Vechi im Kreis Kronstadt/Brașov gehört, kann inzwischen jeder aus- oder absteigen – und die herrliche Landschaft, die paradiesische Ruhe, die die Petres so fasziniert hat, in einem Ambiente genießen, die dem Erlebnis einen würdigen Rahmen verleiht. Gerade so viel Komfort wie man braucht. Doch kannenweise ursprüngliche Schönheit: der Liebreiz der blühenden Natur, die Vielfalt schlichter architektonischer Elemente, die Gemütlichkeit traditioneller bäuerlicher Kunst, lokaltypisch, siebenbürgisch. Vergeblich sucht man hier Pool oder Fitnessraum. Dafür hängen geschnitze Zierlöffel an der Wand. Vom Gebälk der „kulinarischen Scheune“ leuchten Glühbirnen aus geflochteten Körben vor bemalten Garderobenleisten. Im Bücherregal darunter findet man auch deutsche Literatur – seit kurzem das „Komm mit“ 2020 und bald wohl die ADZ. Als gedruckte Zeitung, wie die Petres versichern, obwohl klar ist, dass sie hier höchstens einmal die Woche ausgetragen wird, vielleicht sogar mit dem Pferdewagen…
Aber all das wissen wir noch nicht, als wir am 12. Juli in erwartungsvoller Spannung vor dem Tor mit der Nummer 199 stehen – eigentlich nur ein Ausflug im Urlaub, doch weil man uns angekündigt und vorgeschwärmt hatte, mit Kamera und Reportagegerät. Knarrend gibt die Pforte nach. Keine Menschenseele ist zu sehen, nur blumengesäumte Wege und hölzerne Treppchen, die auf sanfte Hügel klettern. Schmucke Gebäude in Holz und Siebenbürgenblau schmiegen sich an einen mit Rosenbüschen übersäten Hang. Am Ende einer urigen Stiege thront ganz oben eine verglaste Scheune, die einem ein spontanes „Wow!“ entlockt. In welcher Welt sind wir hier gelandet? – Und dies am Ende der Welt.
Ein Hang, sieben Häuschen, ein Traum
Camelia Petre empfängt uns in der „kulinarischen Scheune“, einem luftighellen Gastraum aus mannsdicken Balken, rot-weiß karierten Tischdecken, sächsischem Kachelofen, dahinter ein riesiger Garten mit schattigen Tischen und Lagerfeuerplatz. Zwei Schäferhunde schlurfen heran: Trans und Ilvania, stellt sie lächelnd vor. Holunderlimonade, Kaffee, Marillenkuchen? Im Hintergrund brummt ein Rasenmäher: Vorbereitung auf das Wochenende. Das Anwesen ist umrahmt von Weideland und Wald, ein Flüsschen plätschert hinter dem Holzzaun. Mehr Idylle ist kaum zu ertragen, und während wir auf Silviu Petre warten, erkunden wir das Dekor. In den Waschräumen: Emaillierte Schüsseln auf hölzerner Platte, die Türen der „Damen“ und „Herren“ mit entsprechenden Strohhüten markiert. Die geschnitzten Löffel, der irdene Krug, der bemalte Schublehre-Kalender mit Tagen, Wochen und Monaten zum Verstellen – alles hat seinen Platz gefunden, liebevoll arrangiert, nichts wirkt überladen.
„Schon als kleines Kind habe ich von einem eigenen kleinen Dorf geträumt, wo ich eine Gemeinschaft gründen wollte“, hebt Camelia Petre, die in Zeiden/Codlea aufgewachsen ist, zu erzählen an . „Unter Sachsen, ich habe auch eine angeheiratete sächsische Tante und war immer fasziniert gewesen von den Siebenbürger Sachsen.“ Bei Silviu, der aus Ploie{ti stammt, gab es keine solche Vorprägung. „Aber wir beide sind sehr verbunden mit der Erde, die Rückkehr zu unseren Wurzeln war uns immer wichtig.“ So fuhren sie auch in ihrer Freizeit gerne überland, bis das Schicksal sie auf dem Weg nach Bekokten/B˛rcu] nach Cobor verschlug. „Wir hielten fasziniert an der Kirche, kämpften uns durch das Unkraut, das sich überall an uns heftete. Es war brütend heiß und das Dorf wirkte völlig verlassen.“ Das Erlebnis hatte sich so sehr eingeprägt, dass bald der Entschluss fiel, irgendwann aufs Land zu ziehen.
Mit den Rädern erkundeten sie zwei Jahre später abermals die Region. „Als wir durch Halmeag kamen, sagte ich: Was für ein tolles Dorf – hier müsste man ein Haus kaufen“, schwärmt Silviu Petre weiter. Gleich am nächsten Tag kamen sie wieder, fanden tatsächlich etwas Passendes, „doch die Leute hatten keine Akten und so ließen wir das schweren Herzens sein.“
Eine Woche später hörte Camelia von einem anderen einsamen Dorf: Cobor. Am selben Wochenende fuhren sie aus Klausenburg hin, wo sie damals einen Irish Pub betrieben. „Und da haben wir unser altes Dorf wieder erkannt – es war wie ein Wunder!“ erinnert sich Camelia. Im Internet suchten sie nach Verkaufsangeboten in Cobor. „Innerhalb einer Woche haben wir dann unser erstes Haus gekauft – ohne Akten, nur per Handschlag und Unterschrift vor Zeugen“, lacht Silviu.
Bald fragte der erste Nachbar: Wollt ihr nicht auch mein Haus kaufen? Und der gegenüber ebenso. „Wir wollten einen größeren Garten, vielleicht ein Bed&Breakfast neben uns – eine Alternative zur Stadt für Urlaub und Wochenenden“, motivierten die Petres den zweiten und dritten Kauf – und die Nachbarn überschlugen sich mit weiteren Angeboten. Einer bot ihnen 50 Schafe, „die hab ich bezahlt, aber nie ein Schaf gesehen, die haben wir auf der Sennhütte gelassen“, bekennt Silviu amüsiert. Beim nächsten Hausangebot sagte er dann, sie hätten nun kein Geld mehr. „Da schlug der Mann vor, gib mir doch 30 deiner Schafe und die Differenz in Geld. Danach hatte ich noch 20 Schafe, die haben wir an Ostern an arme Leute im Dorf verschenkt – und so bin ich die Schafe wieder losgeworden“, lacht er.
Nun besaßen die Petres einen Hang mit sieben Häusern, eines baufälliger als das andere, eine Scheune war kurz zuvor abgebrannt… „Wir stellten uns die Frage, was machen wir nun damit? Da wir keine Akten hatten, konnten wir auch keine Gelder für den Wiederaufbau beantragen.“ Kurzerhand verkauften sie ihre Appartments, nahmen einen Kredit auf, wurden von Eltern und Kindern unterstützt. „Mein Vater war Mathematikprofessor, der hat uns all seine Ersparnisse von seiner Rente gegeben – für ihn war das viel Geld“, erzählt Silviu gerührt. „Auch Tochter Sara hat uns geholfen“, ergänzt Camelia. Jeder Pfennig wurde in den gemeinsamen Traum investiert. Fünf Jahre hat der Aufbau der „Gospod˛ria Cobor“ gedauert.
Monumentale Aufgabe mit Hindernissen
Wie baut man allein eine Scheune aus? Wie findet man Facharbeiter auf dem Land? Silviu Petre, der früher zwar eine Baufirma hatte, lacht wissend über diese Fragen. Denn auf dem Dorf ist alles anders. Arbeiter boten sich anfangs zahlreich an: „Domnul Silviu, brauchen Sie Hilfe?“ – „Was kannst du denn?“ – „Tiere hüten.“ Zwar fanden sie einen jungen Mann im Nachbardorf, der den Handwerkern seit der Kindheit immer zugeschaut und einiges abgeguckt hatte – „aber alle andern musst du überwachen, jeden Schritt, der ist ja nur Exekutant, der kann keinen Winkel berechnen“, schildert er das Abenteuer. „Und die Leute kommen nur, wenn sie gerade Geld brauchen“ – nach drei, vier Tagen bleiben sie mit allerlei Ausreden weg.
„Du guckst dir alle YouTube-Filme über Scheunenrenovierungen an, du bremst an jedem Straßenrand, wo gebaut wird, du knipst, dokumentierst, fragst Bekannte“, fährt er fort. Auf Facebook verfolgten sie den Verein Monumentum mit ihrer Ambulanz für Denkmäler und sind, wenn sie in der Nähe waren, hingefahren… „Da fragst du dann, warum ist diese Balkenverbindung so und nicht so?“
Die meisten Gebäude auf ihrem Hang waren eigentlich Ruinen, die Dächer kaputt, ein Baum durchgewachsen, schildert Silviu. „Im Prinzip haben wir alles neu aufgebaut, aber versucht, den Fußabdruck der alten Häuser zu bewahren. Am Stil hat sich nichts geändert, sogar den Dachtyp oder die Balkenverbindungen haben wir originalgetreu rekonstruiert. Die Dachziegel haben die selbe Form, wir haben sie von verfallenen Gebäuden aus Großau hergebracht.“
„Es ist schwer, an einem Ort zu arbeiten, wo du niemanden hast“, resümiert Silviu. Und sinniert: „Viele haben sich über uns gefragt: Wieso kamen die eigentlich hierher? Die Leute verstehen nicht, wenn du etwas für deine Seele tun willst, ohne an materiellen Gewinn zu denken. Wenn wir das Geld auf die Seite gelegt hätten, wären wir heute reich! Wir aber wollten unseren Traum verwirklichen.“ Lächelnd fügt er an: „Und so sage ich auch, wenn jemand rät, in dieses Zimmer passt doch noch ein Schlafsofa rein: Nein, das wäre überladen. Das Gästezimmer muss so sein, wie ich an diesem Ort würde wohnen wollen.“
Ruhe, Dorfleben und kulinarische Freuden
Am 1. Juni dieses Jahres wurde die „Gospod˛rie Cobor“ eröffnet. Mit schmucken Gästehäuschen, Wohnscheune mit Panoramablick, 12 Betten, in denen sie auch selbst noch schlafen, immer aus dem Koffer lebend, „das Geräusch des Reißverschlusses als ständiger Begleiter“, scherzt Camelia. Jedesmal ziehen sie in einen anderen Raum, „so lernen wir unsere Zimmer kennen“. Unter der Woche pendelt sie nach Kronstadt, um den Irish Pub zu führen. „Jemand muss ja Geld verdienen“, scherzt Silviu, der vor Ort gerade drei Angestellte aus dem Dorf anlernt.
Am Wochenende stehen Camelia und Tochter Sara in der Küche und zaubern, inspiriert von der befreundeten Starköchin Dana Graura , die Menüs für die kulinarische Scheune. Samstag und Sonntag öffnen sie ab Mittag die Tore für Ausflügler, Radfahrer und Touristen, die einfach nur einkehren wollen. „Es gibt ja sonst nichts in der Gegend.“ Per Facebook wird jeden Donnerstag das Menü der Woche verkündet , bei dem immer eine Frucht oder ein Gemüse aus dem eigenen Garten im Mittelpunkt steht. „Einmal die Erdbeere, die war dann sogar im Salat. Jetzt will Dana die Petersilie zum Star erheben.“ Das Konzept hat erstaunlichen Erfolg, inzwischen muss man selbst am Ende der Welt einen Tisch reservieren…
Die Gäste sollen genau das erleben, was die Petres an diesem Ort fasziniert: Ruhe, saubere Luft, authentisches Dorfleben, den Umgang mit Tieren – all das, was in der Welt immer seltener wird. Deshalb hofft Silviu auch, dass die Straßen unasphaltiert bleiben und Camelia will sich darum bemühen, dass es vielleicht bald wieder eine Kuhherde gibt. Zwei Büffelkühe haben sie selbst schon erworben. Und auf die Frage nach dem Schwimmbecken antwortet sie lässig: „Einen Pool findet ihr in der Stadt.“
Bis jetzt ist die „Gospodăria Cobor“ noch auf keiner Buchungsplattform, kein Mitglied ökotouristischer Verbände. Werbung geht von Mund zu Mund. „Und das muss so sein, denn wir wollen langsam wachsen – und mit Qualität.“
Camelia erinnert sich an den Moment, als erstmals fremde Gäste ihr gemeinsames Lebenswerk betraten. „Ich habe mich zurückgezogen und aus der Ferne beobachtet und hörte ihr Gemurmel: Wow – wow! Viele Jahre lang kannten ja nur wir diesen Ort. Ich war so gerührt, dass mir die Tränen kamen… Wir sind jetzt beide sehr erschöpft nach dieser schwierigen Zeit, aber sowas erleben wir immer wieder. Und das gibt uns Kraft!“
ADZ | Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien
Text: Nina May | Bilder: George Dumitriu